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Harriet Powers – Die unsichtbare Kunst

Bevor auch nur ein Quilt bei Ney and Niq genäht wurde, war uns bewusst das wir auch einen Lehrauftrag haben. Was sind eigentlich diese Quilts, wie werden sie hergestellt und woher kommen sie überhaupt? Fragen die uns oft gestellt wurden und zeigten das andere noch nie davon gehört haben. Auch wir wurden bei unseren Recherchen immer wieder überrascht, was es alles noch zu lernen gab. Von Anfang an wussten wir das es ein Teil unserer Aufgabe sein würde, nicht nur Quilts herzustellen, sondern auch das Quilting zu unterrichten und die Geschichte des Quilting zu erzählen. Wir glauben nämlich dass jeder Quilt eine Geschichte erzählt. Manche sind leise und zart, andere laut und voller Wucht. Und manchmal gibt es Geschichten, die so tief verwurzelt sind, dass sie uns heute noch den Atem nehmen.


Eine davon ist die Geschichte von Harriet Powers. Eine starke Frau die mit Nadel und Faden Quilts schaffte die uns heute noch absolut faszinieren. Bevor wir euch mehr davon erzählen wer Harriet war und warum ihre Geschichte uns so fasziniert, würde ich gerne erzählen wie ich auf sie aufmerksam wurde. Wir vermute nämlich das einige schon ein Foto von ihr gesehen haben und es gar nicht wissen.


Manchmal ist es so das unsere Arbeitstage nur indirekt mit Quilting zu tun haben. Ganz oft recherchieren wir Materialien und ihre Hersteller und manchmal da suchen wir auch nur nach Inspiration oder Informationen. An so einem Tag ist mir ein Foto aufgefallen, über das ich zufällig im Internet gestolpert bin. Das Bild ist schwarz weiß und zeigt eine schwarze Frau. Sie wirkt ruhig und gefasst. Es war nicht das erste Mal das ich dieses Foto gesehen habe. Ich hatte es schon oft gesehen, aber hatte mich nie zuvor weiter mit dem Foto befasst. An diesem Tag war es anders, denn zum ersten Mal sah ich was die Frau in dem Bild an hatte, eine gequiltet Schürze. Es schossen sofort viele Gedanken durch meinen Kopf. Eine schwarze Frau die zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte einen Quilt trägt? Ich musste einfach mehr wissen und lernte an dem Tag so viel wie ich konnte über die Lebensgeschichte von Harriet Powers. Eine Frau bei dem der Name ganz klar auch Programm ist und viele Widrigkeiten überstehen musste um in ihrem Ableben endlich Anerkennung zu bekommen.


Black and white portrait of Harriet Powers, an African-American woman seated with a quilt on her lap, photographed around 1901
Harriet Powers, ca. 1901. Photograph in the public domain. Source: Wikimedia Commons

Harriet Powers geboren 1837 in die Sklaverei in Georgia (USA), trägt nicht einfach ein Stück Stoff auf ihren Hüften, sondern ein ganzes Universum aus Glauben, Erinnerung und Hoffnung. Harriet wächst auf einer Plantage auf, als Eigentum von Sklaventreibern und in einem System das Schwarze Menschen ihrer Freiheit und Würde beraubt, um selbst davon zu profitieren. Doch selbst in dieser Dunkelheit fand sie eine Sprache, die niemand ihr nehmen konnte, die Sprache von Nadel und Faden.


Nach dem Bürgerkrieg ist Harriet endlich frei, aber das Leben im Anschluss der Befreiung, in der Jim Crow Ära bliebt hart. Freiheit bedeutet für viele ehemalige Sklaven nicht Sicherheit, sondern den steinigen Weg in eine neue, ungewisse Existenz. Harriet und ihr Mann Armstead versuchten, ein kleines Stück Land zu bewirtschaften. Doch Schulden, schlechte Ernten und Diskriminierung machten das Überleben fast unmöglich. Als ihr Mann sie verließ, blieb sie allein zurück, mit ihren Kindern, harter Arbeit und der ständigen Angst. Aus der Not heraus näht Harriet gegen Geld und schafft in dieser unglaublich schwierigen Zeit ihre größten Werke. Harriet Powers’ Quilts sind nicht nur Dekoration. Sie sind visuelle Erzählungen. Jede Naht und jede Figur ist ein Stück Geschichte. Biblische Szenen, Naturphänomene, Träume und Himmelszeichen. Ihre Quilts erzählen vom Chaos und der Ordnung der Welt, von göttlicher Gerechtigkeit und menschlichem Leid. Zwei ihrer Quilts sind bis bis heute erhalten:


Der „Bible Quilt“ (1886)



Patchwork quilt made by Harriet Powers around 1885, depicting biblical scenes with hand-stitched figures and symbols in earth-toned fabrics
“Bible Quilt” by Harriet Powers, ca. 1885–1886. Collection of the Smithsonian Institution, National Museum of American History. Public domain (Smithsonian Open Access).


Der „Pictorial Quilt“ (1898)



The Pictorial Quilt by Harriet Powers, made between 1895 and 1898. A handmade cotton quilt featuring twelve panels with Bible stories and folk scenes, sewn in vivid colors and symbolic imagery. Created by an African-American artist and formerly enslaved woman, now preserved at the Museum of Fine Arts, Boston
Harriet Powers, “Pictorial Quilt,” ca. 1895–1898. Cotton and applique. Collection of the Museum of Fine Arts, Boston (Accession No. 54.148). Public domain image, courtesy of MFA Boston


Late 19th-century American quilt in a Nine Patch pattern, circa 1890-1900, with diagonal block arrangement and printed cotton fabrics
Nine Patch Pieced Quilt, United States, ca. 1890-1900. National Museum of American History. Public Domain

Harriets Werke sind nicht in klassischen Patchwork-Blöcken aufgebaut, wie man sie aus amerikanischen Quilts jener Zeit kennt. Keine gleichmäßigen Quadrate, keine wiederkehrenden Muster. Stattdessen sehen wir freie, erzählende Kompositionen , Figuren, Symbole, Himmelskörper und Tiere.

Ihr Stil war so eigenständig, dass man heute fast sagen könnte: modern. Sie arbeitet mit unterschiedlichen Methoden. Teils näht sie mit der Hand, mit der Maschine und sie arbeitet gerne mit Appliques. Ihr Stil erinnert an Improvisation, an das, was wir heute „Improv Quilting“ nennen. Natürlich noch nicht ganz so abstrakt, aber schon deutlich gegen den Strom. Was mich bei Harriet wirklich erstaunt hat, ist der Gedanke in einer so unfassbar schwierigen Zeit, in der es rein ums überleben geht, kreativ sein zu können. Wenn ich die Arbeiten von Harriet mit einem bekannten Künstler vergleichen darf, wäre es wohl mit Frida Kahlo. Die Gemeinsamkeiten sind unverkennbar. Zwei starke Frauen, die mit extremen Widrigkeiten zu kämpfen hatten, niemals aufgegeben haben und ihre Geschichte in Form von Kunst weitergegeben haben. Beide haben mit ihren Werken die Menschen berührt, ihre Bilder strotzten mit einer emotionalen Wucht und Symbolsprache die andere nur bestaunen konnten. Doch im Unterschied zu Kahlo durfte Harriet Powers keine „Künstlerin“ sein.In einer Gesellschaft, die Schwarzen Frauen kaum Menschsein zugestand, war Kunst ein Privileg, das ihr verwehrt blieb.Und dennoch: Sie tat es. Sie schuf. Sie erzählte.


Ihre Arbeit wurde von Zeitgenossen zwar bewundert, etwa von der weißen Künstlerin Jennie Smith, die ihren ersten Quilt kaufte. Doch erst Jahrzehnte nach ihrem Tod erkannte man den vollen Wert dessen, was sie geschaffen hatte. Heute gilt Harriet Powers als Pionierin afroamerikanischer Kunst, als Brücke zwischen afrikanischen Symboltraditionen, christlicher Spiritualität und der modernen Quiltbewegung. Wenn wir heute ihre Quilts betrachten, sehen wir mehr als Stoff.Wir sehen Überleben. Vision. Glauben. Wir sehen, wie eine Frau, der man fast alles genommen hatte, etwas schuf, das sich nicht zerstören ließ.


Bei Ney and Niq möchten wir, dass diese Geschichten weiterleben. Wir nähen, weil wir glauben, dass Schönheit aus Erinnerung entsteht. Und weil Frauen wie Harriet Powers uns lehren, dass jedes Stück Stoff ein Ort sein kann – für Mut, für Ausdruck, für Hoffnung.

 
 
 

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